12.06.2024

LGBTQIA+

Immer mehr Jugendliche in Findungsprozess ihrer Geschlechtsidentität suchen Unterstützung bei der Waisenhausstiftung

In den Wohngemeinschaften und verschiedenen Wohngruppen der Waisenhausstiftung häufen sich seit letztem Jahr die Anfragen, trans* Jugendliche unterzubringen. Manche outen sich auch erst nach einer gewissen Zeit, ziehen etwa als biologisches Mädchen ein, fühlen sich aber als Junge und möchten später auch explizit mit einem Jungennamen angesprochen werden. Sie alle stehen unter sehr großer psychischer Belastung. Scham und große Verunsicherung prägen ihr Leben. Depression und Suizidgedanken sind oft die Folgen. 

 

Queerness als neues Aufgabenfeld 

Für das Team der Kinder- und Jugendhilfe ist ein neues Aufgabenfeld entstanden. „Wir setzen uns damit verstärkt auseinander und fragen uns, was genau diese Jugendlichen brauchen“, so Sarah Plantier, Sozialarbeiterin und Bereichsleiterin. Sie hat das Thema Queerness unter ihre Fittiche genommen. Für die pädagogischen Kräfte ist es ungewohnt, wenn sie ein Mädchen aufnehmen und es später männlich adressieren müssen. „Es fordert hohe Sensibilität und ein neues Bewusstsein.“ Seit dem Frühjahr schult sich das Team fort, um adäquat auf queere Jugendliche reagieren zu können. Der erste Schritt beginnt mit einer Sensibilisierung. Er umfasst das Hinterfragen von Vorurteilen, das Bewusstwerden für eine geschlechtersensible Sprache und damit auch die Umformulierung von Formularen, wo bislang nur weiblich oder männlich steht und nun eine weitere diverse Geschlechtskategorie eingefügt werden soll. Umbenannt wurde bereits eine Wohngruppe: Statt „für Mädchen und Jungen“ heißt es nun „für junge Menschen“. Auch das bisherige sexualpädagogische Konzept steht auf dem Prüfstand. Außerdem rücken die Gestaltung der Wohnbereiche und die Einführung geschlechterneutraler Toiletten in den Fokus. Ein Arbeitskreis Queer hat sich gegründet, im Herbst wird es einen Fachtag geben. „Die Kinder- und Jugendhilfe ist der Spiegel der Gesellschaft, dem müssen wir uns auch in unserer Arbeit stellen“, sagt der neue Stiftungsdirektor Michael Fromm.

 

Sie brauchen viel Empathie, damit der Leidensdruck nachlässt

Kinder und Jugendliche stehen unter enormer psychischer Belastung, einem kaum vorstellbaren Leidensdruck, wenn sie plötzlich nicht mehr als Anna sondern als Paul wahrgenommen werden möchten. Sie ziehen sich zurück, bleiben zuhause in ihrem abgedunkelten Zimmer, gehen nicht mehr zur Schule, weil sie sich im falschen Körper fühlen und neben der eigenen Scham meist auch den Spott der Mitmenschen ertragen müssen. Das fehlende Verständnis der Umwelt verstärken diese Tendenzen. Eltern fällt es oft schwer, diesen Identitätswechsel mitzutragen. „Diese Jugendlichen atmen auf, wenn sie zu uns in eine der Wohngruppen kommen, wo sie endlich ernst genommen werden“, so Sarah Plantier.

So erging es auch Raphie, die/der schon als kleines Mädchen fühlte, dass „etwas nicht stimmte“ und sich immer als Junge wohler fühlte. Als sich Raphie outete, reagierte der Vater mit schwersten Misshandlungen und Morddrohungen, Raphie leidet bis heute aufgrund der Gewalt des Vaters unter einer Hörschädigung. Erst der Umzug in eine Jugendwohngruppe der Waisenhausstiftung brachte Sicherheit und Verständnis. „Die Kinder- und Jugendhilfe hat definitiv mein Leben gerettet“, sagt Raphie und fühlt sich heute keinem Geschlecht mehr zugehörig, bezeichnet sich als nonbinär. Es gab und gibt zu viele Zweifel. „Ich hätte mir gewünscht, dass man mehr darüber geredet hätte“, sagt Raphie, aber da sei damals noch zu wenig Wissen vorhanden gewesen. Dennoch ist klar: Raphie hat durch die Unterstützung der Waisenhausstiftung einen Boden unter den Füßen bekommen. „Ich war immer sehr dankbar für diese tolle Unterstützung und konnte mich endlich in meiner ganzen Persönlichkeit zeigen“. Familiäre Gewalt und Traumata lassen sich nicht so einfach „wegwischen“, der Kontakt zu den Eltern ist ein sehr dünner Faden, intensive therapeutische Begleitung hat viele Jahre wichtige erste Hilfe geleistet. Raphie studiert mittlerweile Kunst und möchte später im Lehrberuf arbeiten. Die Angst ist groß, sich die Karriere zu verbauen aufgrund der fehlenden bzw. nonbinären Geschlechtszuordnung. Deshalb zeigt Raphie nicht überall ihre / seine trans* Identität.

 

„Den Jugendlichen ist meistens sehr früh bewusst, dass ihr Geschlecht nicht richtig ist, aber sie outen sich erst sehr spät oder gar nicht – aus Angst.“

Sarah Plantier, Sozialarbeiterin 

 

Depressionen bis hin zu Selbstmordgedanken

„Den Jugendlichen ist meistens sehr früh bewusst, dass ihr Geschlecht anders ist, aber sie outen sich erst sehr spät – aus Angst“, so die Sozialarbeiterin Sarah Plantier, „trans* Jugendliche brauchen ein Grundvertrauen und Menschen, die sie so annehmen, wie sie sind. Wir schauen, dass wir dieses Grundvertrauen aufbauen“. Derzeit leben zwei trans* Jugendliche in den Einrichtungen der Waisenhausstiftung. Doch die Anfragen sind weitaus höher, auch in den ambulanten Hilfen. Man weiß, dass trans* Jugendliche stärker von Depressionen und Suizidgedanken betroffen sind. Die Ablehnung des eigenen Körpers, das fehlende Anerkennen des geschlechtlichen Identitätswechsels, Mobbing- und Diskriminierungserfahrungen, die Überforderung der Familien, Verwandten und Freunde, auch die Angst etwas falsch zu machen und die Sorge, dass eine mögliche Geschlechtsumwandlung die falsche Entscheidung sein kann – all das ruft ein komplexes und sehr belastendes und kräftezehrendes Spannungsfeld hervor. Fluss e.V. geht in seinen Schulungen davon aus, dass bis zu drei Kinder und Jugendliche je Klasse queer sind. Der Verein bietet Bildungsarbeit und Beratung zu Geschlecht und sexueller Orientierung an. Die Schülerinnen und Schüler fühlen sich im falschen Körper oder möchten sich nicht eindeutig in der Geschlechtszugehörigkeit festlegen. Trans* Identität ist ein weltweites Phänomen, 85% der trans* Identifizierten sind biologisch Mädchen.

 

Es braucht viel Fingerspitzengefühl

Sarah Plantier zieht erste Bilanz: „Mir war bisher nicht bewusst, welch langer und leidvoller Prozess der geschlechtlichen Identitätsfindung hinter den Jugendlichen liegt, bis sie endlich ansprechen, dass etwas für sie nicht stimmt.“ Wenn jemand plötzlich sagt, er sei weiblich und nicht männlich, dann steckt dahinter ein jahrelanger Prozess der Suche, des Zweifelns, des versteckten Leidens. Über Jahre hinweg ein Versteckspiel. Auch Raphie bestätigt das: „Transsexuell zu sein ist keine Phase, die dann wieder vorbeigeht! Man kann das nicht selbst entscheiden. Es bleibt lebenslang. Es ist von Anfang an ein Leidensweg. Und er wird nie enden. Das habe ich mir nicht ausgesucht.“ 

Wenn Jugendliche dann endlich in einem pädagogischen oder therapeutischen Rahmen Vertrauen fassen, sich öffnen und darüber sprechen, dann ist das ein großer Befreiungsschlag, der sehr viel Mut kostet. „Jetzt endlich trauen sich die jungen Menschen, darüber zu sprechen“, sagt Sarah Plantier und begründet damit auch das Phänomen, warum immer mehr trans* Jugendliche Unterstützung brauchen. Sie wünscht sich mehr Gelassenheit und Offenheit. „Es braucht eine gesellschaftliche Sensibilisierung. Jeder und jede sollte so sein dürfen, wie er oder sie ist“.

 

„Ich wurde endlich so behandelt, wie ich behandelt werden wollte. Ab da konnte ich mich frei entwickeln.“
Raphie, junge Person mit trans* Identität. Lebte mehrere Jahre in Einrichtungen der Waisenhausstiftung

 

Bis heute ein sehr emotionales Thema

Raphie hatte oft Angst, für verrückt gehalten zu werden. Bist du dir sicher? Vielleicht ist alles nur ein Hirngespinst? Die Verwirrung ist eine ständige Begleiterin. Bis heute ist es ein „sehr emotionales Thema“. Raphie erzählt: „Es war schön, dass ich in der Wohngruppe immer ernst genommen wurde. Dort wurde ich zum ersten Mal als Junge wahrgenommen und ich habe mich sehr wohl gefühlt. Ich wurde endlich so behandelt, wie ich behandelt werden wollte. Ab da konnte ich mich frei entwickeln.“ Die Pädagoginnen und Pädagogen haben Raphie Halt gegeben. „Ich durfte so sein, wie ich bin, hatte endlich eine Daseinsberechtigung.“ Raphie wurde Respekt entgegengebracht. Er / Sie wünscht sich, dass auch die Gesellschaft trans* Jugendliche ernst nimmt, hofft auf mehr Akzeptanz und Toleranz. „Es ist eine große Not, wir brauchen Hilfe“. Dass queere Menschen auch Todesdrohung erhalten, führt zusätzlich zu einem großen Unsicherheitsgefühl. 

Junge trans* Menschen wie Raphie gehen einen steinigen Weg. Aber sie gehen ihn. Und sie haben viel Empathie für andere Menschen. Denn sie wissen, wie wertvoll und kostbar die Empathie ist, die sie selbst benötigen.

Text: Antigone Kiefner (AKie)

Kontakt

Kinder- und Jugendhilfe der Waisenhausstifung

0761 2108 215 info.jugendhilfesv-frde

Adelhauser Straße 33
79098 Freiburg